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31. Neuanfang

Deutschland, 1945: Vertriebene Sudetendeutsche treffen im bayerischen Durchgangslager Wiesau ein. Solche Lager gab es überall, um die Flut der Ankommenden zu kanalisieren. Quelle: MZ, dpa Lizenz
Vertriebene 1945

Noch bevor die Sonne ganz aufgegangen war, öffnete ich vorsichtig die Brettertür des Schuppens und horchte in das morgendliche Zwielicht hinein. Foret gab ich ein Zeichen, mir leise zu folgen. Möglichst lautlos überquerten wir den Hof, um das Grundstück zu verlassen, ehe Fremde kommen würden. Die Uberts würden wahrscheinlich nicht wieder auf den heimatlichen Hof zurückkehren können. Das Hoftor ließ sich nicht aufschieben, es musste von außen blockiert worden sein. Wir saßen fest und waren zum Warten gezwungen. Über uns rauschte es durch die Luft, kurz darauf erzitterte der Boden leicht und Ziraka wurde vor uns in ihrer Drachengestalt sichtbar. „Steigt auf! Ich bringe euch zu meinem Hort, dort können wir in Ruhe reden.“, sagte sie ruhig aber bestimmend. Foret und ich nahmen auf ihrem Rücken Platz, dann erhob sie sich mit einigen kräftigen Flügelschlägen vom Pflaster des Grundstückes. Einige Minuten später glitt die Drachendame in den Steinbruch hinunter, wo sie uns absetzte und ihr menschliches Antlitz annahm.

 

Ziraka berichtete in traurigem Tonfall: „Ich habe mitbekommen, dass die Tschechen gemeinsam mit den Sowjets die Deutschen abtransportiert haben, auch unsere Freunde. Seit Tagen flog ich unsichtbar die Elbe entlang, den Fluss hinauf und hinab und beobachtete das Treiben der Menschen. Vielen wurde von den neuen Herren Gewalt angetan, einige starben. Die Bahnhöfe entlang der Gleise quollen förmlich über. Überfüllte Züge brachten die Deutschen nach Norden.“ Ihre Augen glitzerten von Tränen feucht, während sie von ihren Beobachtungen sprach. Foret und ich nahmen das Erzählte bestürzt mit langsamem Nicken zur Kenntnis. Nach einem kurzen Moment des Grübelns teilte ich den anderen beiden meine Gedanken mit: „Ich möchte den Uberts gern folgen und sicherstellen, dass es ihnen gut ergeht. Erst wenn ich mir sicher bin, dass sie ein neues Zuhause gefunden haben, möchte ich wieder erkunden, was mit unserem Volk passiert war.“ Ziraka nahm mich in die Arme. Ihre Anteilnahme erleichterte mich sehr.

 

„Ich komme mit, Daril. Wo du hingehst, werde auch ich sein. Zu zweit sind wir außerdem bisher immer recht erfolgreich gewesen.“, bekundete Foret seine Loyalität zu mir. Ich nickte ihm zu und drückte ihn gerührt an mich. Erfreut entgegnete ich: „Ohne dich wäre ich doch aufgeschmissen, mein Freund!“

Ziraka bot an, uns ein Stück weit nach Norden zu bringen, damit wir dem Flüchtlingsstrom folgen konnten und eine Möglichkeit hätten, die Uberts zu finden. Anschließend wollte sie in ihren Hort zurückkehren und abwarten, was die Zeit bringen würde. Foret und ich packten also all unser Hab und Gut zusammen und setzten nach mehr als einem Jahr unsere Reise fort, wenn auch mit einem etwas anderen Ziel.

 

Während des einen Nachkriegsjahres voller Ungewissheit hatten wir drei uns oft auf dem Hof der Uberts aufgehalten, aber der Großteil unserer Ausrüstung blieb im Drachenhort, da wir von den Menschen gut versorgt worden waren. Wir füllten unsere Wasserbehälter auf und schulterten das Gepäck. Ziraka nahm ihre wahre Gestalt an und ließ und aufsitzen, dann machte sie sich unsichtbar und stieg in die Lüfte. Bald wandte sie sich der Elbe zu und folgte ihr flussabwärts in Richtung Dresden. Die Landschaft glitt friedlich unter uns hinweg, bis wir Aussig erreichten. Noch immer sah man dort die verheerenden Auswirkungen des Bombenangriffes vom letzten Jahr. Die Dörfer entlang des Flusses hingegen erschienen weitgehend unberührt vom Krieg. Den Windungen der Elbe folgend erreichten wir bald Tetschen und Bodenbach, wo das Schloss nahe des Ufers und auch die umliegenden Stadtteile weitgehend unbeschadet anmuteten. Nicht überall hatte der Krieg so gewütet wie in Aussig. Ziraka trug uns sanft durch das Elbsandsteingebirge, bis wir Dresden erreichten. Die ehemalige sächsische Residenzstadt befand sich in desaströsem Zustand. Der größte Teil der Gebäude in der Innenstadt war zerstört worden, doch die Menschen hatten begonnen, aufzuräumen ihre Häuser wieder aufzubauen. Am Südende der Stadt hielten die Züge mit den böhmischen Ausgewiesenen, die sich wie riesige Menschentrauben nahe der Gleise zusammenfanden.

 

Einige Kilometer abseits der Leute landete Ziraka und ließ Foret und mich absteigen. „Ich hoffe, dass ihr die Familie findet. Vergesst mich nicht, Freunde, und besucht mich irgendwann wieder, wenn sich die Lage wieder beruhigt hat. Ich werde euch vermissen. Es war schön, dich kennengelernt zu haben, Brüderchen.“, sagte sie, nachdem sie wieder ihre menschliche Form angenommen hatte. Dann nahm sie uns nacheinander fest in die Arme. Mit von Tränen glitzernden Augen verschwand sie. Nur der Luftzug ihres Flügelschlages berührte uns wie ein letzter wehmütiger Abschiedsgruß.

 

Mit unserem Gepäck würden Foret und ich zwischen den vielen Leuten nicht sonderlich auffallen, wenn wir uns etwas bedeckt hielten, dachte ich mir. Zielstrebig schlugen wir den Weg zu den Menschenmassen ein, um hoffentlich die Uberts zu finden. Die Gleise befanden sich in Sichtweite, das Geräusch vieler Stimmen wurde durch die Luft zu uns herangetragen, wodurch es nicht schwerfiel, den Bahnhof zu finden. Ein wenig Abseits standen einige militärisch anmutende Zelte, vor denen sich Schlangen von wartenden Menschen bildeten. Später fand ich heraus, dass in einem den Vertriebenen mitgeteilt wurde, wohin sie gehen sollten, um sich niederzulassen. In einem anderen Zelt wurden Lebensmittelrationen verteilt und in einem dritten konnte man sich von Sanitätern medizinisch versorgen lassen. Mit den ausgestellten Papieren machten sich die Umsiedler auf den Weg in die neue Heimat. Meist mit Wagen, die von Pferden, Eseln oder Ochsen gezogen wurden, aber einige auch mit motorisierten Fahrzeugen. Die Uberts konnte ich anfangs nicht ausmachen, weshalb wir die meiste Zeit am Bahnhof warteten und Ausschau nach ihnen hielten. Bald traf ein weiterer Zug aus dem Süden ein, die Güterwaggons quollen nur so über von Menschen, die bereits vor dem endgültigen Halt aus den großen Schiebetüren strömten. Familien fanden sich so gut es ging zusammen, um sich gemeinsam registrieren zu lassen und sich nicht zu verlieren.

 

Josef und Erik entdeckte ich erst, als sie zusammen mit den Frauen und der kleinen Edith den Bahnsteig verließen. Ich kam nur mühsam gegen die Menschenmassen an, die hier unterwegs waren, aber Foret und ich schlugen uns förmlich durch die Menge und erreichten die Uberts, ehe sie bei der Registrierungsstelle anlangten. „Haben wir euch nun endlich gefunden!“, brach es aus mir heraus, als Erik vor mir stehen blieb. Wir fielen uns in die Arme und freuten uns über die Zusammenkunft. „Wir kommen mit euch mit, ehe wir unsere Exkursion fortsetzen.“, teilte ich der Familie mit, die versprachen, uns zu unterstützen. Josef trat am das Zelt und redete mit den Leuten, die ihm an Herz legten, sich weiter nach Norden zu wenden. In Anhalt sollte es reichlich Platz für die Neuankömmlinge geben, um sesshaft zu werden. In Leipzig wäre es ratsam, nochmals Informationen einzuholen. Die Person im Zelt stellte ihm ein Dokument aus, auf dem die Namen der Angehörigen aufgelistet waren und eine offizielle Bestätigung ihres Status vermerkt wurde. Als Josef sich uns wieder anschloss, unterrichtete er alle über seine Gedanken: „Wir sollten den Menschen nachgehen, die der Elbe nordwärts folgen. So kommen wir auch nach Leipzig, wo sie uns hinschicken. Die Zwerge sollen zwischen uns gehen, damit sie nicht bemerkt werden.“ Daraufhin setzen wir uns in Bewegung und schwammen im Strom der Leute mit.

 

Irgendwann wurde allen ihr Gepäck, das sie in den Händen tragen mussten allzu schwer. Viele der Leute zogen Bollerwagen hinter sich her oder schoben Kinderwagen, die mit ihren Habseligkeiten beladen hatten. Außerhalb von Dresden tauschte Josef seine Taschenuhr gegen einen Mittelgroßen Wagen ein, in dem wenigstens Edith und das Handgepäck Platz fanden. Ein obenauf liegender Koffer wurde mit einem Seil aus meinem Inventar auf den Wagen gebunden Josef, Foret, Erik und ich wechselten uns mit dem Ziehen des Karrens reihum ab. Das Kleinkind Lag mal darin, Andermal wurde es von Erik oder einem anderen Familienmitglied getragen. Viel geredet wurde nicht, gerastet wurde am Wegesrand, wenn es nötig wurde. Der Marsch zog sich über knapp zwei Tage hin, wobei wir in der Nähe von Riesa die Elbe hinter uns lassen musste, um nach Leipzig zu kommen. Auch hier fiel mir auf, dass besonders die Städte stark beschädigt worden waren. Die Briten und Amerikaner schienen recht gezielt ihre Bomben geworfen zu haben und in erster Linie Industrieanlagen betroffen hatten, aber auch Wohngebiete waren stark zerstört worden. In Leipzig zeigte sich uns ein ähnliches Bild wie bereits in Aussig und in Dresden. Der Strom von Menschen wurde weniger, man half sich gegenseitig, wo Alte und Kranke zurückfielen. Auch wir ließen zwischenzeitlich eine ältere Dame auf unserem Wagen mitreisen, der man die Anstrengung sehr ansah. Foret und ich zogen, während sie sich hinter uns mit den Uberts unterhielt.

 

Ab und zu wurde doch jemand auf uns Zwerge aufmerksam und man nannte uns „zwei kräftige Burschen“ oder ähnliches. Mehr Notiz wurde von uns glücklicherweise nicht genommen, denn die Leute waren mehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt.

Von Leipzig aus wurden wir nochmals nordwärts geschickt, aber auf den Bahnhof verwiesen. Dort angekommen, wurden die Menschen angewiesen, ihre Dokumente prüfen zu lassen. Ein neuer Stempel fand seinen Platz auf den Papieren und uns wurde ein Zug zugewiesen, der uns nach Köthen bringen sollte. Auch diesmal gab es keine Passagierwaggons, sondern die Leute wurden wieder in einfache Eisenbahnwagen für den Gütertransport gesteckt. Erst nach vielen Jahren wurde mir die Tragik der ersten Nachkriegsjahre bewusst. Nach dem Krieg musste man einfach vorwärts schauen, um an der Vergangenheit nicht zu verzweifeln.

Irgendwann kamen wir dann auch in Köthen an und wurden mit einem Pferdekarren auf ein Dorf in der Nähe gebracht, wo die Familie vorläufig Unterkunft fand.

 

Seit dem unsanften Aufbruch in Birnai waren nicht mehr als fünf Tage vergangen, aber genau ist mir das nicht im Gedächtnis geblieben, denn die Zeiten erforderten viel Durchhaltevermögen.

Hilde traf hier später zufällig auf ihre Familie aus Sebusein. Beiden Familien wurde dann im Zuge der Bodenreform im selben Ort ein Grundstück zugewiesen, sie nur wenige hundert Meter auseinander lagen. Foret und ich hielten uns noch bis Mitte neunzehnhundert-siebenundvierzig bei den Uberts auf und halfen ihnen während der Eingewöhnung auf dem Feld und mit dem Vieh, das ihnen für die Selbstversorgung nun zur Verfügung stand. Guten Gewissens konnten Foret und ich nun wieder unserer Mission nachgehen, da meine Herzensmenschen nun wieder ein eigenes Dach über dem Kopf hatten. Unser Weg führte uns nun über die weite fruchtbare Ebene nach Westen, dem Harz entgegen. Möglicherweise konnten wir dort wieder Hinweise auf unser Volk finden.

 

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