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29. Drachengeschichten

Bild von Enrique Meseguer auf Pixabay
Drache und Zauberin

„Die Zwerge, die mich vor sehr langer Zeit hier zurückließen, nannten mich Ziraka. Sie fanden mein Ei in diesen Höhlen als sie begannen, den Sandstein abzubauen. In ihrer Obhut hatten sie selbst ein Ei, aber aus ihm schlüpfte nichts, solange sie den Steinbruch bewirtschafteten. Die Zwerge waren recht freundlich zu mir. Nachdem ich geschlüpft war, redeten sie mit mir, zogen mich auf, zeigten mir das Draußen und schützten mit Magie mein Heim. Einige Sommer später beschlossen sie weiterzuziehen, verabschiedeten sich von mir und nahmen ihr Ei wieder mit. Ich habe Euresgleichen in guter Erinnerung, habe aber nie verstanden, weshalb sie gehen mussten.“, begann der Drache seine Geschichte. Foret nickte nachdenklich. „Die Steinformer kamen also vom Heim des Berggeistes hierher, um Sandstein abzubauen. Wisst ihr, wohin sie ihr Weg führte, als unsere Vettern Euch verließen, werte Ziraka?“, fragte er höflich. Die Drachendame neigte traurig den Kopf zu beiden Seiten. „Nein. Ich bin ihnen nie in ihre Tunnel gefolgt, von denen sie hin und wieder sprachen. Sie waren rastlos und stets fleißig, was immer sie auch gebaut hatten. Ich war noch jung, als sie gingen, aber groß genug, um mich selbst versorgen zu können. Die Schutzzauber ihrer Magier haben auch nach all den vielen Sonnenläufen immer noch Bestand. Weil ihr zu ihrem Volk gehört, haben euch die Maßnahmen wohl nicht wirklich behindert.“, versuchte sie sich an einer Erklärung.

 

Sie sah nun mich an und sprach zu mir: „Daril, du schaust sehr nachdenklich aus. Was bedrückt dich?“ Ihre sanfte, dunkle Stimme hallte tief in meinem Herzen nach. Ich benötigte einen Augenblick, um ihr antworten zu können und setzte zaghaft an: „Viel Zeit ging ins Land, Ziraka. Du und ich, wir kennen uns, obwohl wir uns nun zum ersten Mal Auge in Auge gegenüberstehen. In dem Ei, aus dem nichts schlüpfte, befand ich mich. Es ist noch keine zwanzig Sonnenläufe her, da ich den Schutz der steinernen Hülle nicht sehr weit von hier verlassen hatte. Ich denke, die Zwerge wollten, dass du mich beschützt, bis ich aus dem Ei erwachen würde. Es kam aber etwas anders.“ Ihre geschlitzten Augen weiteten sich, als würde sie sich an etwas längst Vergessenes erinnern. Ich erzählte Ziraka meine Geschichte in verkürzter Form. Sie begann am ganzen Leib zu erzittern, als ich ans Ende kam.

 

Der Drache schluchzte und Tränen kullerten ihm aus den großen Augen. „Als die Zwerge aufbrachen, sagte Rufol eindringlich zu mir ‚Bewache die Quelle!‘. Jeden Tag drehe ich seitdem unsichtbar meine Runden den Bach hinauf, bis zum Fluss, durch die Berge und über die Wälder. Seitdem hier aber immer mehr Menschen siedelten, wurde ich vorsichtiger und blieb lieber näher am Hort. Ab und zu muss ich aber auch fressen und besorge mir auch mal ein Tier von den Weiden, die die Menschen angelegt hatten. Mir wurde eben klar, dass du es warst, was ich beschützen sollte, Daril. Sie hatten das Ei also in der Quelle untergebracht. Hätten sie mir das gesagt, hätte ich mich gründlicher darum gekümmert. Ich bin so froh, dass es dir gut ergangen ist.“, brach ein Wortschwall aus dem sichtlich gerührten Wesen heraus. Ihre Flügel weiteten sich, sanft legte sie die großen ledrigen Schwingen um mich herum und zog mich zu sich heran. Diese ungewöhnliche Umarmung fühlte sich gut und ehrlich an. Auch ich war bis in mein Innerstes von der Geste gerührt. „Danke.“, entfuhr es mir geflüstert, als sie mich sanft an ihre Schnauze drückte.

 

Als sie mich wieder losließ, standen ihr erneut Tränen in den Echsenaugen. „Ich habe nur versucht, meinen Auftrag zu erfüllen, kleiner Bruder.“, hauchte sie, immer noch aufgewühlt von ihren Gefühlen. Wir blickten uns tief in die Augen. „Ich bin stolz auf dich, große Schwester. Du hast deine Aufgabe gewissenhaft erfüllt.“, entließ ich sie aus ihrer Verpflichtung und gab ihr einen Kuss oben auf die Schnauze. „Du bist ein ehrenhafter Zwerg, Daril. Dein Erscheinen erklärt Alles und verändert für mich im selben Moment so viel. Ich bin glücklich.“, entgegnete Ziraka. Sogar in ihrem echsenhaften Gesicht war ein Lächeln erkennbar.

 

Das Äußere der Drachendame wirkte wie eine wilde Mischung aus Salamander, Eidechse, Krokodil und Fledermaus, wenn sie ihre Schwingen ausbreitete. Imposant, gefährlich, aber auch weich und liebenswürdig. Die beinahe tiefschwarze geschuppte Haut glänzte im Sonnenlicht grün und blau. Das bewusste Anspannen der Schuppen bewirkte die fast vollständige Reflexion des Lichtes, was sie unsichtbar werden ließ. Im schlechtesten Fall konnte man den Umriss des Geschöpfes erahnen. Ich selbst empfand meine „große Schwester“ als ein wunderschönes Wesen, das pure Magie ausstrahlte. Ihre freundliche, freche Art machte sie darüber hinaus zu einer sehr umgänglichen Person. Reizte man sie aber über Gebühr, würde sie vor roher Gewalt nicht zurückschrecken, denn immerhin war sie trotz ihrer hohen Intelligenz eine Art Raubtier.

 

Durst und Appetit nagten langsam an Foret, der sich seit dem Gespräch mit Ziraka im Hintergrund gehalten hatte. Er machte sich mit einem Räuspern bemerkbar: „Ähem. Ich packe mal den Proviant aus, weil mein Bauch mir meldet, dass es ihm an Nahrung mangelt.“ Dann ging er zu unseren Sachen und holte die Vorräte hervor. Auch in mir machte sich der Appetit bemerkbar. „Ich werde mich zu Foret gesellen, um mit ihm gemeinsam zu essen. Die Steine dort sehen als Sitzgelegenheit recht einladend aus.“, sagte ich und zeigte von mir aus nach rechts, wo drei Sandsteinfelsen eine gerade Oberfläche in geeigneter Höhe aufwiesen. Ziraka deutete ein Nicken an und meinte: „Ja, setzt euch auf die Bänke. Eure Ahnen hatten sie errichtet, um sich auszuruhen. Nach all den Jahren sind sie doch etwas sehr abgenutzt und kaum noch als das zu erkennen, wozu sie geschaffen wurden.“

Auch ich holte Proviant aus meinem Ranzen und zusammen ließen wir uns an dem verwitterten Ruheplatz nieder.

 

Ziraka begann erneut zu erzählen: „Ich kann mich gut daran erinnern, dass Rufol und Tungol an jenem Platz saßen und so manches Mahl eingenommen hatten. Diese beiden hatten sich am meisten um mich gekümmert, solange die Zwerge hier waren. Von ihnen lernte ich eure Sprache und sie brachten mir einige Zauber bei. Ihre Kleidung unterschied sich von jener der Arbeiter im Steinbruch. Der Vorarbeiter Morwin, sprach sie immer als ‚Gelehrte‘ an. Meine Lehrer trugen weite Roben, Morwin und seine Leute hingegen hatten Leinenhemden und mit Leder beschlagene Hosen an, die ihnen die Arbeit erträglicher machten.“ Zirakas Blick verklärte sich etwas, während sie ihren Erinnerungen nachhing. „Morwin drängte immerzu darauf, dass die Bauvorhaben vorangingen, doch die Gelehrten nahmen sich alle Zeit, die sie hatten, um mich zu unterrichten und mir Mut zu machen, die Welt zu erkunden. Deshalb übten sie mit mir, meine Gestalt zu verschleiern, um unentdeckt von den Menschen zu bleiben. Rufol hatte meine Schuppen untersucht und herausgefunden, dass sie unter bestimmten Voraussetzungen unsichtbar werden. Nach einigen Wochen eingehender Versuche zeigte er mir, was ich tun musste, um mich vor neugierigen Blicken zu schützen. Tungol hingegen lehrte mich eure Sprache und erklärte mir das Wesen und die Sitten der Zwerge. Die Steinmetze hingegen hielten sich für gewöhnlich von mir fern.“, erzählte sie weiter. Traurigkeit schwang in ihren Worten mit.

 

Foret und ich hatten unsere Mahlzeit beendet und räumten den Sitzplatz wieder auf. Foret sprach Ziraka an: „Wir sind auf den Spuren der Steinformer unterwegs und wollen herausfinden, wohin sie gegangen sind, deshalb kamen wir auch hierher. Es ist eine glückliche Fügung, dass wir Euch hier trafen, werte Ziraka. Ihr habt unseren Vettern und meinem Freund Daril einen großartigen Dienst erwiesen, dass ihr über so lange Zeit eine zuverlässige Wächterin wart. Aber auch wir werden bald weiterziehen, um unsere Reise fortzusetzen.“ Ich nickte. „Es steht für mich außer Frage, weiter zu reisen, aber ich lasse dich nur sehr ungern wieder allein, große Schwester.“, bedauerte ich das Unausweichliche.

 

Mit einem Male vibrierte der Fels, als hätte in einiger Entfernung eine Explosion stattgefunden. Auch Ziraka und Foret schienen die Erschütterung wahrgenommen zu haben, also liefen wir hintereinander ins Freie, der Drache voran, der sich nach dem Passieren der Barriere sofort unsichtbar machte. Aus nördlicher Richtung wehten dunkle Wolken heran. Das Dröhnen von Motoren durchschnitt die Luft, einige Flugzeuge schnellten durch den Himmel und drehten nach Norden in Richtung Aussig. Wenige Augenblicke später hörten wir aus der Ferne weitere Detonationen, kurz darauf waren wieder Erschütterungen im Boden zu spüren. Einige Steine und Felsen lösten sich im Steinbruch und krachten hinunter in den See.

 

„Der Krieg der Menschen hat uns eingeholt. Sie zerstören die Stadt. Ich muss nach Birnai zu den Uberts!“, brach es erschrocken aus mir heraus. Ich versuchte den Zwerg und den Drachen dazu zu bringen, mich zu unterstützen. „Ziraka, kannst du mich zum großen Fluss bringen? Die Leute, die sich um mich gekümmert hatten, könnten in Gefahr sein. Ich muss ihnen helfen. Foret, begleitest du mich?“ Beide nickten nur. „Steigt auf meinen Rücken Zwerge, ich fliege euch zum Fluss.“, bestätigte meine Schwester. Wir rannten zur Höhle zurück, um unsere Ausrüstung anzulegen, dann eilten wir zurück zum Steinbruch, wo Ziraka unruhig gewartet hatte. Voller Entschlossenheit nahmen Foret und ich auf ihrem schuppenbewehrten Rücken Platz und machten uns möglichst klein. Ich umschlang mit meinen Armen ihren geschmeidigen Leib und mein Freund hielt sich vorsichtig an mir fest, als der Drache die Schwingen ausbreitete und sich behäbig in die Lüfte schwang. Sie war vorsichtig, damit Foret und mir ja nichts geschehen würde und sie flog nur knapp über den Wipfeln der Bäume. Die Elbe war leicht auszumachen, denn sie zog seit Ewigkeiten ihre gewundenen Bahnen durch das Sandsteingebirge. Am rechten Ufer befand sich Birnai, gegenüber reihten sich die Häuser von Wanow am Wasser entlang. Im Norden ragten dunkle Wolken aus Rauch und Staub in den Himmel. Die Stadt musste schwer getroffen worden sein. Die kleineren Ortschaften schienen vom Bombardement nicht betroffen gewesen zu sein, eher schien es , dass die Fabriken weiter nördlich das Ziel der Angreifer gewesen waren. Die Burgruine Schreckenstein war nur schemenhaft im Zwielicht zu erkennen. Ziraka glitt in enger werdenden Spiralen tiefer, dem Flussufer entgegen. Ich lotste sie so nah wie es mir möglich war, zum Haus der Uberts. Als wir aufsetzten, sprangen Foret und ich behände ab. „Bitte warte hier, wir rennen zum Haus und sehen nach, was los ist.“, bat ich den Drachen zu bleiben. Ich rannte die Böschung hinauf und winkte Foret, mir zu folgen. Ich sprang förmlich über die Bahnschienen, die zwischen dem Fluss und der Sebuseiner Straße Dresden mit Prag verbanden. Auf der Straße standen viele Leute, die dem Schrecken im Norden entsetzt gegenüberstanden. Ich hielt meinen Freund an der Hausecke zurück, damit die Menschen uns nicht sehen würden. Ich erkannte Familie Ubert. Josef und Hilde hielten sich an den Händen und starrten in den Himmel, Aussig entgegen. Die Jagdbomber flogen einen erneuten Angriff, die Motoren dröhnten nochmals über uns hinweg. „Die Amis kommen zurück!“, rief eine männliche Stimme in der Nähe auf deutsch. Ein junger Mann, gekleidet in einem Hemd und einer groben Hose, die von einem Hosenträger gehalten wurde, zeigte auf die wendigen Flugzeuge. Zwei Mädchen hielten sich ängstlich an ihm fest. Das war Erik!

 

Ich bedeutete Foret versteckt zu bleiben. Selbst näherte ich mich den Menschen und versuchte mich bei Erik bemerkbar zu machen. Ich schlich hinter ihm entlang, flüsterte ihm zu: „Daril ist zurück, triff mich im Schuppen.“ Der junge Mann zuckte kurz zusammen, während ich mich vorsichtig weiter dem Hoftor näherte. Nichts hatte sich hier verändert und die Tür zum Schuppen stand offen. Ich schlüpfte hinein und setzte mich auf einen Strohballen. Lange musste ich nicht warten, bis der schlaksig wirkende Mann eintrat und mich erstaunt ansah. „Daril, was tust du hier? Sowjets und Amerikaner legen das Land in Schutt und Asche. Deutschland verliert den Krieg. Es ist nicht sicher und die Zukunft ist ungewiss.“, berichtete er hastig. Ich reagierte darauf in knappen Worten. „Als die ersten Bomben fielen war ich in einem alten Steinbruch nicht weit von hier. Meine Ahnen waren mal dort. Ich habe Freunde gefunden, die euch helfen können. Wenn sich die Lage beruhigt hat, hole ich sie auf den Hof und wir können mit deiner Familie in Ruhe reden. Welches Datum ist heute?“, wollte ich außerdem wissen. „Heute ist der neunzehnte April neunzehnhundert fünfundvierzig. Schon vorgestern waren sie hier und hatten Bomben über Aussig abgeworfen. Viele Menschen sind in die umliegenden Dörfer geflohen, um weiteren Angriffen zu entgehen. Morgen früh zum Eier ablesen schaue ich in den Schuppen, ob ihr da seid. Danach können wir reden. Ich berichte Paps und Mutsch von dir. Bis morgen, Daril.“, dann verließ er den Schuppen und ich überlegte, was ich tun sollte.

 

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