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08. Erkundung der Vergangenheit

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Tropfsteinhöhle

 

Ein gepflasterter Weg führte fort von der Bahnstation. Links ging es um eine Ecke und dann, mit kaum enden wollenden Treppenstufen, tiefer hinunter in den Berg hinein. Geradeaus blickte ich direkt auf ein Gebäude mit roter Steinfassade, zu ein paar Stufen hinaufführten. Die leuchtende Schrift über dem Eingang, „gabil mekhem“, bedeutete „Großes Tor“.

 

 

„Wollen wir runter in den Berg oder nochmal mit der Bahn fahren?“, fragte ich an Hyrasha gerichtet. Sie zeigte mit immer noch blassem Gesicht die Treppe hinunter. Beleuchtet wurde unser Weg von orangem Licht, das von großen Pilzen ausging. Tropfsteine hingen von der Höhlendecke und wuchsen auch aus dem Fels heraus, der den Boden bildete. Ein stetes leises Tropfen beherrschte unsere Wahrnehmung. Bald gewöhnte ich mich daran und ging frohgemut die Treppe hinunter. Hyrasha folgte mir langsam.

Weiter unten rauschte ein kleiner Wasserfall durch die Höhle in die Tiefe, hier und da flatterte eine Fledermaus umher, es gab aber kein Anzeichen einer Bevölkerung, nur hier und dort ein leerstehendes Haus. Die Wohnungen waren direkt in den Felsen hineingebaut worden. Ihre Fassaden hatten die unterschiedlichsten Farben und bestanden aus vermauerten Steinquadern. Das erste Haus links von mir bestand aus dunkelblauem Gestein. Es war klein, beherbergte eine Schlafstatt, eine Truhe, einen Ofen und auf einer kleinen Ablage stand eine Apparatur mit leeren Glasfläschchen. In der Truhe fand ich einige verkorkte Flaschen mit flüssigem Inhalt. Eine davon mit goldgelber Flüssigkeit öffnete ich und roch prüfend daran. Es schien sich um Met zu handeln, der die Jahrhunderte ebenso überdauert hatte, wie die Fässer im Rasthaus oberhalb der Höhlen, aber ich trank nicht davon.

Die Treppe führte weiterhin abwärts und wendete sich nach rechts an einem anderen Gebäude vorbei, das keine Türen besaß und aus dessen Inneren es rötlich leuchtete. Darin befanden sich ein Lavabecken, Hämmer und Zangen und auch ein abgenutzter Amboss, eine kleine Schmiede also. Ich war beeindruckt und überlegte, ob ich etwas von dem Werkzeug gebrauchen könnte. Meinen Hammer vom Werkzeuggürtel wog ich in der Hand und verglich ihn mit einem aus der Schmiede. Ich tauschte sie aus und behielt den antiken zwergischen, der besser in der Hand lag.

Meine Begleitung hatte ich fast vergessen, so gepackt vom Entdeckungseifer war ich. Zurück auf dem Weg schaute die blauäugige Frau mich genervt an und ich entschuldigend zurück. Schweigend gingen wir weiter. Tiefer und tiefer führte uns die angelegte Strecke über Stufen, Podeste und Brücken, bis wir erneut auf Gleise stießen. Ein Schienenstrang führte geradeaus, ein zweiter nach links. Orange leuchtende Runen an der Felswand benannten das jeweilige Ziel. „thaiku“ und „azahur bazirtharrul“, „Minen“ und „Behausungen aus Schiefer“, waren die Worte.

 

 

Ich konnte mich nicht entscheiden, in welche Richtung wir uns wenden sollten, also fragte ich Hyrasha, wohin sie gehen oder fahren wollte. Sie meinte: „Lass uns den Gleisen zu Fuß zu den Minen folgen.“ Die Blässe in ihrem Gesicht wich direkt wieder, als ich nickte. Die Lorenbahn war ihr einfach nicht geheuer. Neben den Schienen war ausreichend Platz, um dort hintereinander entlangzulaufen. Der Stollen war hier, wie alles hier unten, orange beleuchtet. In jeder sich bietenden Ritze und jedem noch so kleinen Vorsprung im Fels zog ich das glühende Pilzgeflecht entlang und wies uns den Weg.

Einige Stufen mussten wir überwinden, ehe wir nah an einen Lavastrom gelangten, der sich einige Meter weiter vorn zischend in die Tiefe ergoss. Links von uns lag ruhig ein unterirdischer See, in dem türkis leuchtende Lebewesen umher schwammen. Dazwischen schlängelte sich unser Weg, in dessen Mitte sich die Gleise der Bahn vorwärts schoben.

Gerade so in Sichtweite, durch die fließende Lava und die orangefarbenen Pilze beleuchtet, konnte ich bereits den Mineneingang sehen, der sich über drei Ebenen erstreckte.

Als die Gleise endeten, denen wir gefolgt waren, schlossen sich neue Schienen einer Minenbahn an. Ich wand mich nach rechts, um mich überall umzusehen. Es eröffnete sich mir nach unten und nach vorn eine gigantische Höhle, durch die ein Wasserlauf und ein Kanal aus Magma flossen. Dazwischen standen mehrere Bauten, die durch Straßen und Brücken verbunden waren. Am hinteren Rand der Höhle konnte ich dunkel die Silhouette eines beeindruckend großen Gebäudes ausmachen. Das sollte unser nächstes Ziel werden.

Das alles hier überwältigte mich und ich wandelte fast wie im Traum, sog jeden Duft, jedes Geräusch und jeden Augenblick ein, als hätte ich nie gelebt und wäre erst hier auf die Welt gekommen. Meine Sinne konnten gar nicht alle Eindrücke verarbeiten.

„Daril? Wir sollten dort hinunter gehen.“, weckte mich Hyrashas Stimme aus meinen Gedanken.

Ein Mechanismus an einer Holzkonstruktion unweit meines Standortes weckte meine Neugier erneut und ich untersuchte die Zahnräder und Hebel eingehend. Es handelte sich um eine Art Seilwinde, die sich nach oben und unten bewegen ließ. Ich folgte dem Verlauf des Seiles, das am Rand einer Plattform weiter in die Tiefe reichte. An seinem Ende befand sich ein Kasten, der zwei oder drei Zwergen Platz bieten konnte. Ich hantierte daraufhin mit den Hebeln und brachte diesen Aufzug auf die Höhe der Plattform. „Ich lasse dich runter. Du bedienst dann von unten die Seilwinde, sobald ich eingestiegen bin.“, instruierte ich meine Begleiterin, der ich ihr Unwohlsein am Gesicht ansah. „Gut.“, war ihre Antwort. Ich zeigte ihr kurz, wie sie mit den Hebeln umzugehen hatte und wies sie an, sich in den Transportkorb zu setzen. Dann ließ ich das Seil mir dem Korb möglichst langsam und vorsichtig in die Tiefe hinab. ‚Dole na dole.‘, ‚Unten in der Tiefe.‘, dachte ich so bei mir.

Die Seilwinde hielt selbständig an, als sie den Boden erreichte und Hyrasha rief kurz nach mir, dass ich den Korb wieder heraufholen sollte. Als er wieder auf meiner Höhe ankam, stieg ich ein und ich machte mich mit einem Pfiff bei der Frau bemerkbar. Ein kleiner Ruck und der Korb glitt abwärts. Als er den Boden berührte stoppte der Seilzug abermals. Ich stieg aus und sah die kriegerisch anmutende Bibliothekarin musternd an. Diese Fahrt schien ihr besser bekommen zu sein, als die Bahnreise. Vielleicht kann ich ihr ja noch die Scheu vor der zwergischen Technologie nehmen oder zumindest mindern.

Ich schaute nach oben, wo ich vorhin noch gestanden hatte, staunte nicht schlecht, welchen Höhenunterschied wir so überwunden hatten und entdeckte dabei ein ein Wasserrad, das von einem Wasserfall angetrieben wurde, der sich aus dem See zu ergießen schien. Die Technik und die Architektur meiner Vorfahren bediente sich den natürlichen Bedingungen der Umgebung. Fügte sich in die Natur ein und zerstörte sie nicht. Bemerkenswert.

Erst jetzt stieg ich aus dem Transportkorb des Aufzuges aus und betrat eine Straße, die durch eine Mauer von einem Magmafluss abgegrenzt wurde. Der Weg führte ein Stück geradeaus und gabelte sich dann. Wir wandten uns nach rechts und folgten den Pflastersteinen. Der rötliche Schein von geschmolzenem Gestein war allgegenwärtig, vor uns kam ein brodelnder See in Sicht, an dem sich unser Weg vorbeischlängelte. Wieder wurde er von einer Mauer geschützt. Am Ende des Weges erkannte ich den aus farbigen Säulen bestehenden Eingang des großen Gebäudes, das ich bereits oben bemerkt hatte. Wir kamen näher und ich konnte einen Schriftzug über dem Eingang sehen: „azhâru abhârul“, „Heim des Wissens“.

 

 

Das sollte die Bibliothek sein.

Wir traten durch den türlosen Eingang und fanden uns in einem Sammelsurium aus Regalen, Schreib- oder Lesepulten und Sitzgelegenheiten wieder. Ganz im Gegensatz zur sehr strukturierten Technologie der Zwerge empfand ich diesen Ort einfach nur als heimelig und gemütlich, obwohl alles aus nacktem Stein bestand. Ich besah mir die Regale näher, die Steintafeln enthielten. Sie waren nach dem zwergischen Schriftsystem geordnet und jede Tafel enthielt Titel und Standort eines Werkes, ein Karteisystem in der einfachsten Weise. Nun musste ich nur wissen, wonach ich gezielt suchen sollte. Hyrasha stand neben mir und lächelte mit strahlenden Augen in den Raum hinein. So emotional hatte ich sie bisher noch nie erlebt.

Wir nahmen Platz, ich packte etwas Proviant und meine Trinkflasche aus und nahm erst einmal eine kleine Mahlzeit ein. Das brauchte ich nach dem langen Weg. Ich stillte meinen Appetit, verstaute danach alles wieder und machte mich auf, die Bibliothek zu erkunden. Vielleicht konnte mir der Zufall weiterhelfen.

Ich nahm mir also das Karteisystem vor und versuchte, etwas zur Geschichte Takal Dûms zu finden. Der Band mit dem Namen „Zur Entstehung und Entwicklung der zwergischen Gesellschaft“ erschien mir vielversprechend. Ich nahm die Steintafel und versuchte die darauf vermerkte Position zu finden, was im oberen Geschoss auf der linken Empore der Fall sein sollte. Aus dem Foyer führte eine kurze Treppe nach oben, worauf sich ein großer, mehrfach unterteilter Raum anschloss. Links von mir befanden sich weitere Stufen, die mich auf die besagte Empore brachten. Die Bodenfliesen waren zu Wörtern gelegt worden: „azal farinlugûb“, „alte Geschichten“. Hier sollte ich richtig sein.

 

Auch hier befanden sich Regale, die in die Wände hinein gehauen waren sowie Lesepulte und Sitzgelegenheiten, die Meisterwerke der Steinmetzkunst darstellten. Einige Steintafeln lagen zerbrochen vor den Regalen auf dem Boden, dennoch befanden sich die meisten noch an ihren Plätzen. Wahllos griff ich eine Tafel und nahm sie aus dem Regal, die Berührung genügte, um die Runen darauf erglühen zu lassen. „Von Zwergen und Trollen“ las ich in grünlich schimmernden Schriftzeichen. Am unteren Rand der Tafel befand sich ein Pfeil, mit der Spitze nach unten zeigend, den ich drückte und der Text auf dem Stein veränderte sich zu „Kapitel eins: Gemeinsamer Ursprung“. Auf einer Tafel schien sich ein vollständiges Buch zu befinden, das durch Runenmagie zu aktivieren war. Mit dem Pfeil konnte ich also blättern. Das fand ich sehr praktisch und platzsparend. So brauchte ich nur ein Buch in die Hand nehmen, um den Titel in Erfahrung zu bringen. Nachdem ich fünfzehn oder zwanzig Tafeln durchgesehen hatte, fand ich den gesuchten Titel und ließ mich nieder, um darin zu lesen.

 

Takal Dûm war demnach die Wiege der Zwergenkultur. Der Schmiedevater, Sohn der Erde selbst, erschuf die Zwerge aus dem Gestein der Berge und hauchte ihnen mit glühendem Magma Leben ein. Daraufhin bevölkerten sie die unteren Höhlen der Eisenberge, wo sie Stein bearbeiteten, Erze abbauten und Pilze züchteten, die ihre Nahrungsgrundlage bildeten. Über Jahrtausende blieben sie von den anderen Völkern der Welt unentdeckt. Erst als die Zwerge sich aus den Bergen heraus gruben, stellten sie zögerlich Kontakt mit der Oberwelt her. Gelehrte trafen sich mit Menschen, Elfen und anderen Geschöpfen, um ihr Wissen zu erweitern. Von den Elfen erlernten die Zwerge die Grundlagen der Magie, die sie mit ihrem technischen Verständnis nutzbringend verbanden und so neue Technologien entwickelten. Daraus entstanden zum Beispiel die Lorenbahn, die Steintafelbücher und magisch verschlossene Türen.

Als die Menschen ihre kriegerische Natur offen zeigten, zogen sich die Zwerge zurück in ihre Höhlen unter den Bergen, hielten aber steten Kontakt zu den Elfen, denen sie viel zu verdanken hatten. Nur noch selten wagten sich Zwerge in die Oberwelt, bis von Osten her Reiter einfielen, die auch in das Zwergenreich eindrangen.

 

Hier endet das Buch, das eher eine Chronologie darstellte, als dass es ein Lehrbuch war.

Danach werden die Bewohner der Stadt vermutlich nach Westen geflohen sein und auch Gabil‘urdûm gegründet haben.

Ich war also dort, wo ich sein sollte, nur die Antworten meiner Fragen musste ich noch finden. Im ältesten Teil der riesigen Stadt würde ich meine Suche beginnen müssen.

Das wäre nach den Angaben im Buch die Schieferstadt, „azahur bazirtharrul“.

Ich traf im Foyer der Bibliothek wieder auf Hyrasha, die voller Konzentration das Karteisystem durchsah. Als ich mich laut räusperte, schaute sie kurz auf und nickte. „Ich werde mich in einem anderen Teil der Stadt umsehen. Du scheinst für deine Zwecke auch fündig geworden zu sein.“, sprach ich sie an. „Es ist unglaublich, Permoník! Hier ist der perfekte Ort für mein Vorhaben. Danke, dass du mich mitgenommen hast. Wenn du meine Hilfe benötigst, findest du mich hier.“, entgegnete sie voll ungekanntem Enthusiasmus.

‚Dann wird meine Heimat ein wahrlich geschichtsträchtiger Ort.‘, dachte ich bei mir und grinste ebenfalls.

Ich verließ die Bibliothek und begann die Stadt in Ruhe für mich zu erkunden. Rechts von mir führten Stufen eine Ebene höher und wieder stand ich vor den Gleisen einer Lorenbahn. Ich brauchte nicht lange suchen, um die Konsole zu finden, die mir auch mitteilte, dass diese Strecke einen Halt nahe der Schieferstadt hatte. Also aktivierte ich eine Lore, stieg ein und los ging die Fahrt in die Vergangenheit.

Mir fiel auf, dass hier unten gar nichts gewaltsam zerstört worden war, sondern nur der Zahn der Zeit an der Substanz genagt hatte. Das Myzel von Pilzen hatte Mauern beschädigt, fließendes Wasser hatte sich seinen Weg gebahnt, Magma hatte Erz geschmolzen. Aber alle Dinge, die ich in die Hand nahm oder bediente, hatten ihre Funktion nicht verloren. Mein Volk hatte wahrlich für die Ewigkeit gebaut. Warum sie aber nie wieder hierher zurückgekommen sind, verstand ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

 

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