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06. Unter der Erde und im tiefen Wald

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Ein Minenstollen mit Schienen.

 

Unten an der Bahnrampe verabschiedete ich mich von Rübezahl: „Habt großen Dank, Zabad 'abbud. Ihr habt meine weitere Reise sehr vereinfacht. Ihr seid ein großer Gönner meiner Sippe. Ich wünsche Euch Alles erdenklich Gute und hoffe Euch bald wiederzusehen.“

Wieder nickte er nur lächelnd. „Gute Reise, junger Freund!“

Er drückte einen Knopf am Schaltpult, den ich ihm zuvor gezeigt hatte, und die Lore setzte sich quietschend in Bewegung. Wie der Antrieb funktionierte, musste ich noch herausfinden, aber es war einfach genial. Mein Gefährt rollte durch die runde Tunnelöffnung und schon war ich unterwegs.

Die Art der Tunnel wechselte zwischen künstlich erschaffenen Gängen und natürlichen Höhlen, stetig erhellt durch das grünlich-blaue Licht in den Wänden. Mal bergauf, mal bergab, um einen unterirdischen See herum. Manche Abschnitte waren von Holzbalken abgestützt, weil das umliegende Material kein festes Gestein war. Für längere Zeit lief die Fahrt problemlos, bis es zu rumpeln begann und die Lore drohte von der Schiene zu kippen. Mit einem Ruck blieb sie stehen. Ich zog die Bremse vorsichtshalber fest und stieg bedächtig aus. Etwas Geröll blockierte die Schiene, das ließ sich schnell und einfach beheben. Ich räumte die Steine aus dem Weg und passte auf, dass nichts nachrutschte. Die Gänge waren hier in weniger gutem Zustand, weil sie sicherlich seit langer Zeit nicht benutzt worden waren. Nachdem ich die Lore befreit hatte, schaute ich mich etwas um, damit ich keine neuerliche Überraschung erleben müsste. Ich folgte der Schiene einige Zeit zu Fuß, aber ich konnte nichts Gefährliches entdecken. Deshalb ging ich zurück, setzte mich in den Waggon und löste die Bremse. Die Lore setzte mit einem kleinen Ruck die Fahrt fort. Ich war gespannt, wohin mich die Reise wohl führen möge.

Das Gefährt legte an Geschwindigkeit zu, glitt dahin wie ein Pferd in schnellem Galopp und ich musste schon sehr aufpassen, um mögliche Hindernisse rechtzeitig zu erkennen. Das ging einige Minuten lang so weiter, bis ich sachte am Bremshebel zog. Mir wurde ja doch etwas mulmig zumute bei diesem Tempo. Nun konnte ich mich wieder umsehen und schaute nach vorn. Das Gleis führte irgendwann durch ein Tor, ähnlich dem Eingang zu Rübezahls Heim. Ich bremste nochmals, um die Inschrift lesen zu können, aber der Torbogen wurde nur von einem floralen Ornament geschmückt. Die Lore fuhr hindurch, wurde langsamer und hielt an.

Der Raum ähnelte dem in Gabil‘urdûm sehr, nur war die Steuerkonsole von einer großen Wurzel durchdrungen worden. Demnach würde ich von hier wohl nicht mit der Lorenbahn wegkommen. Ich stieg aus, kramte meine Sachen zusammen und lud mir alles auf. Es führte eine Wendeltreppe hinauf zum Ausgang, was nicht zwergisch anmutete. Die Neugier packte mich wieder. Wo war ich hier gelandet?

Am oberen Ende der Treppe versperrte mir eine schwere Holztür den Weg. Auch sie war mit Mustern versehen, die Pflanzen darstellten. Efeuranken, Eichenblätter, Tannenzapfen, aber Schriftzeichen konnte ich keine erkennen. Mit Händen und Augen suchte ich nach einem Hinweis, wie sich die Tür öffnen ließe, aber keine Klinke, kein Knopf, nichts konnte ich finden. Bis ich mit der linken Hand über die Schnitzerei eines Ahornblattes strich, das dabei grün aufleuchtete. Dennoch blieb mir der Durchgang verwehrt. Vielleicht konnte ich eine weitere Stelle auf dem Holz finden, die ebenso reagiert? Mit der rechten Hand tastete ich nun über das Relief, bis wieder ein grünes Licht erschien, wieder als Ahornblatt markiert. Nun legte ich beide Hände gleichzeitig auf die entdeckten Stellen. Sofort wurde das Leuchten stärker, durchfloss meine Hände und verbreiterte sich auf der Tür, bis sich beide Enden trafen. Die Schnitzerei auf der Tür und mein Herz glühten gleichzeitig grün im Takte meines Herzschlages, in der Mitte des Reliefs formte sich ein grün schimmernder Spalt, der immer heller wurde, bis sich die Hälfen aufschieben ließen. Die Tür war nun offen, das Licht ebbte ab und verschwand. Ich war überwältigt von diesem magischen Schloss, davon hatte ich niemals zu träumen gewagt.

Ich schritt also durch das Portal nach draußen. Vorsichtig, so leise ich konnte trat ich hindurch, hinein in noch mehr Grün. Es war ein dichter Wald, in dem ich nun stand. In der Nähe vernahm ich das leise Rauschen von Wasser. Beruhigt drehte ich mich um, damit ich sehen konnte, woher ich gekommen war.

Die Tür war in einem großen Ahornbaum eingelassen, fast unsichtbar für unachtsame Augen. Ich war immer noch verblüfft, schloss aber die Tür, damit niemand den Haltepunkt der Lorenbahn entdecken konnte. Die Tür verschwand sofort, nachdem ich sie fest zugezogen hatte. Nur zwei Ritzungen in der Rinde, die wie Ahornblätter aussahen, konnte ich noch vage erkennen. Ab hier musste ich dann wohl wieder zu Fuß weiter. Vögel zwitscherten, Tiere huschten im Unterholz umher. Ich schlug mich in Richtung des Wasserrauschens durch, das ich bereits wahrgenommen hatte. Einmal stolperte ich über eine Wurzel, fiel geradewegs nach vorn um, rieb mir die Nase und spuckte welke Blätter aus. Unweit von mir ertönte ein helles Lachen.

Wer konnte das sein in dieser menschenleeren Gegend? Ich wusste ja nicht einmal, wo ich hier war. Mir blieb nichts weiter übrig, als mich aufzurappeln und mich umzuschauen, wer sich da über mich lustig machte. Ich sah nichts als Bäume, Farn und Büsche. Wieder erklang das Lachen, diesmal entfernter. „Zeig dich!“, rief ich. Dann wollte ich meinen Weg fortsetzen, aber die Wurzel umschlang plötzlich meinen rechten Fuß und hielt ihn fest. Geistesgegenwärtig zog ich meine Axt aus dem Gürtel und hackte nach dem Wurzelstrang. „Oh!“, vernahm ich und die Falle löste sich vom Fuß. „Da ist wohl jemand zum Spaßen aufgelegt?“, fragte ich laut, aber eine Antwort blieb aus, also ging ich weiter in die eingeschlagene Richtung. Das Rauschen schwoll an, ein brausender Wasserfall tauchte zwischen den Bäumen auf, der sich in einen kleinen See ergoss.

Die Sonne schien, die Mücken sirrten im Schilf. Ein guter Platz zum Rasten, dachte ich mir. Also setzte ich mich am Ufer ins Gras und holte meinen Proviant hervor, aß etwas und schaute mich neugierig um. Meine Wasserflasche fiel plötzlich um, wieder das Lachen von vorhin. Nun konnte ich eine Richtung ausmachen, sah direkt dorthin, konnte nur noch ein paar wackelnde Blätter ausmachen. Also nahm ich die Flasche und ging zum Ufer, um sie aufzufüllen. Hinter mir raschelte es, blitzartig warf ich die Flasche dorthin und traf etwas. „Klonk!“, machte es. Ich raste dorthin, hob die Flasche auf und entdeckte ein kleines Wesen mit dünnen Libellenflügeln, aber einem menschenähnlichen Leib. Es schüttelte den Kopf, um die Benommenheit abzuschütteln. Dabei griff ich es behutsam und lachte den winzigen Spaßmacher an. „Aha, du wolltest mich also foppen. Beinahe hatte ich schon Zweifel an mir selbst. Hoffentlich ist dir nichts weiter passiert, ich wollte die ja nichts Böses.“ Es öffnete die Augen, begann im Selben Moment aufgeregt zu gestikulieren und zu fiepen. Seine Sprache konnte ich nicht verstehen, also ließ ich es am Boden los, damit es sich beruhigen konnte.

“Zdravím tě, permoníku!“, ertönte es über mir. Es war Hyrashas Stimme, die mich ansprach. „Auch ich grüße dich, werte Behüterin der Sagen.“, erwiderte ich höflich mit kleinem Schrecken und Erstaunen. „Was hast du mit der Víla vor, junger Freund? War sie etwas vorwitzig?“, ich konnte ihr Grinsen förmlich sehen. Nun stand ich auf und drehte mich zu Hyrasha um. „Nun ja, dieses kleine Wesen hatte mich etwas geärgert und sich daran erfreut. Ich setzte mich zur Wehr, aber es scheint ihr wieder gut zu gehen. Es ist schön, dich zu sehen.“ Sie nickte freundlich. „Ja, ich habe mich erholt. Gut, dass ich dich gefunden habe. Die Víli lieben es, Schabernack zu treiben. Manchmal wird es aber auch ernst. So mancher Wanderer kam schon bei ihren Späßen zu Schaden. Im Grunde sind sie aber harmlos, müssen aber in ihre Grenzen verwiesen werden.“, erzählte sie mir. „Das ist mir aufgefallen. Diese hier schien ihren Spaß mit mir zu haben. Möchtest du mich begleiten oder mir helfen auf dem Weg in den Ural?“ Sie nickte wieder, diesmal mit ernster Miene. „Dein Weg wird beschwerlich sein, junger Permoník. Nur wenige Menschen kennen noch die alten Überlieferungen, die ich versuche zu erhalten. Ich suche ein gutes Versteck, ein Lager, für die Schriften. Dein Ziel könnte genau das richtige für mich sein. Da ich dessen genaue Lage nicht kenne, muss ich mich zu Fuß dorthin begeben und gemeinsam ist so eine reise doch besser zu ertragen.“ Ihre eisblauen Augen durchdrangen mich und meine Seele bis auf den Grund. Sie duldete keine Widerworte, doch in ihrer Stimme lag Wärme und Hilfsbereitschaft. Ich schaute nochmals in das Gras, aber die Víla war bereits fort. Nun ging ich endlich mit meiner Feldflasche zum Wasserfall, um sie wieder zu befüllen. Hyrasha setzte sich zu meinen Sachen ins Gras und starrte auf den See hinaus. Ihre dünnen Zöpfe an den Schläfen wiegten sich im leichten Wind. Ich kam zurück und setzte mich dazu. Außer zum Trinken und Waschen konnte ich Wasser nichts abgewinnen. Die Insekten waren mir auch recht lästig. Am liebsten wollte ich sofort meinen Weg fortsetzen. „Entschuldige bitte, aber weißt du, wo wir hier sind? Ich wüsste gern, in welche Richtung ich gehen muss, um nach Takal Dûm zu gelangen.“, sprach ich Hyrasha an. „In den Waldaihöhen sind wir, dem Quellgebiet des großen Flusses Wolga. Wir müssen noch viele Tage nach Osten gehen, um in die Nähe deiner Heimat zu gelangen, immer am Fluss entlang.“

Nach der Stärkung packte ich alles zusammen, füllte die Flasche erneut auf und weiter ging es in Richtung der Eisenberge.

In den Jahrhunderten gaben die Menschen den Flüssen, Bergen, Seen und allem in der Welt neue Namen. Jede Sprache und jede Kultur kannte unterschiedliche Begriffe für die selben Dinge. Ich musste dies in Einklang bringen und Verbindungen durch Zeit und Raum herstellen, die sich keine sterbliche Seele ausmalen kann. Auch ich bin vergänglich, wenngleich ein Zwerg länger lebt als jeder Mensch. Magie hielt mich im fast ewigen Tiefschlaf, bis meine Zeit gekommen war, aufzuwachen. Nun bin ich hier,. Unterwegs zu meiner Vergangenheit, von der ich nur wenig wusste. Die grundlegenden Kenntnisse wurden mir mitgegeben, vieles musste ich neu erlernen in dieser modernen Welt der Menschen, die ohne Magie auszukommen schien. Aber sie war noch da. Versteckt, schwer zu finden, doch allgegenwärtig.

All solche Gedanken schwirrten mir durch den Kopf, als Hyrasha und ich am Ufer des See entlang stapften und danach weiter und weiter dem Flusslauf folgten. Auf längere Zeit mussten wir uns nicht am Stand der Sonne orientieren, denn der immer breiter werdende Strom leitete uns zuverlässig. Kleine Bauerndörfer ließen sich problemlos umgehen aber bald kam eine Stadt in Sichtweite. Also lagerten wir im Wald bis die Nacht anbrach und bewegten uns im Schutze der Dunkelheit weiter und durchquerten ungesehen die große Siedlung. Welchen Namen die Stadt hatte, wusste ich nicht.

Auch die Tage darauf kamen wir ohne Hindernisse voran. Manchmal beschwerlich durch morastigen Untergrund, manchmal leichter über die Wege und Straßen, aber immer vorsichtig. Der Wald gab uns alles, was wir brauchten, nachdem die verderblicheren Vorräte verbraucht waren. Der Sommer näherte sich merklich seinem Ende, die Blätter verloren ihr Grün und legten das bunte Herbstkleid an. Der Wind wurde frischer. Wir fanden Eicheln, Nüsse und Pilze, fingen einmal auch einen Fasan. Unser Überleben war gesichert. Wir unterhielten uns wenig, obwohl mir einige Fragen auf der Zunge brannten wie das Feuer einer Zwergenschmiede. Hyrasha war zielstrebig, half mir oft über umgestürzte Bäume und Felsen hinweg. Unser gemeinsames Ziel Takal Dûm zu erreichen machte aus uns ein seltsames, einander vertrauendes Paar. Die meiste Zeit sprachen wir auf Tschechisch miteinander, seltener auf Deutsch.

Ich sorgte für den Unterschlupf während der längeren Tagesrast, sie besorgte Nahrung, die ich zubereitete. Wir mussten weder Hungern noch frieren.

Nach ungefähr zwei Wochen ohne größere Vorkommnisse kamen wir an den Rand einer wirklich großen Stadt. „Nischni Novgorod. heute heißt sie Gorki.“, sagte Hyrasha. „Eine alte Stadt mit viel Geschichte. Den Mongolen war sie nicht wichtig, aber die Tataren später belagerten sie lange. Danach wurde sie für den Moskauer Rus eine sehr wichtige Handelsstadt aufgrund ihrer guten Lage am schiffbaren Fluss. Die erste große Etappe unserer Wanderung ist geschafft.“

Wir bewegten uns weiterhin am Nordufer der Wolga ostwärts durch die moorige Auenlandschaft. Ein kleiner Gebirgszug ragte in Sichtweite in die Höhe. Darauf gingen wir unbeirrt zu. „Dort gibt es eine Möglichkeit, besser voranzukommen.“, meinte Hyrasha geheimnisvoll, während sie in Richtung der Berge zeigte. Ich nickte und folgte ihr, wie ich es schon seit Anbeginn unserer gemeinsamen Reise tat. Meine Schuhe nässten durch, Insekten ärgerten mich, aber ich blieb tapfer Schritt für Schritt. Als der Sumpf ein Ende hatte, ließ ich mich in das zu Boden gefallene Laub der Bäume plumsen und schlief ein, so geschafft war ich davon.

 

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