02. Der Traum vom Fliegen

Artwork by Zekron
Thalor und Getriebeschwinge

 

Ein letzter Tropfen Öl noch, um das nervige Quietschen der Gelenke zu unterbinden, dann konnten Thalon und Getriebeschwinge zu einem Testflug starten, der ihnen zeigen würde, wie gut sich die Verbesserungen machen würden. Der große Mann mit den kurzen Haaren zog seine Schutzbrille vor die Augen und tätschelte seinem nun flugfähigen Freund den Hals, bevor er sich in den schweren Ledersattel schwang. Der grün geschuppte Drache watschelte aus der Werkhalle. Thalon musste blinzeln, als sie ins Licht der Sonnen traten.

 

Mit den beiden Leinen, die der kräftige Mann in den Händen hielt, fächerte er die Flügelkonstruktion auf. Mit einem Flügelschlüssel zog er das Räderwerk der Schwingen auf. Zwei Hebel dienten dazu, es zu bedienen.

„Los geht’s, Junge!“, rief der Mekantera seinem Reittier zu, dass sich auf der erhöhten Plattform in Bewegung setzte. Am Ende der Rampe sprang das Reptil gekonnt nach oben ab. Genau in diesem Moment zog Thalon an gleichzeitig beide Hebel nach hinten, die Schwingen strafften sich und das Gespann glitt im Aufwind in den von wenigen Schäfchenwolken durchsetzten Himmel. Sulo und Palo, die Zwillingssonnen hatten ihren höchsten Stand noch lange nicht erreicht und der Flugwind kühlte die Sonnenstrahlen stark ab, als der Mechaniker seinen Drachen in den Sturzflug lenkte. Kurz über dem schroffen Felsboden ihrer Heimat startete er das Federwerk und die künstlichen Flügel begannen zu schlagen, um wieder an Höhe zu gewinnen. Die richtige Reaktion zur rechten Zeit war das Wichtigste bei dieser Art des Drachenfliegens, weshalb Getriebeschwinge und Thalon die Vorgänge bereits unzählige Male geübt hatten. Es war nicht selten geschehen, dass ihnen dabei ein Unglück geschehen war, doch immer ging es glimpflich für die beiden aus, mehr als ein paar gebrochene Rippen und einige blaue Flecken gab es nie zu beklagen.

 

Heute lief alles, im Wortsinne, wie geschmiert. Die Feinjustierung der Flügel und des Federgetriebes hatten sich schon jetzt bezahlt gemacht. Problemlos stieg der Drache mit jedem Schlag der Schwingen höher und höher hinauf. Nur erprobten sie die Wendigkeit, indem Thalon unterschiedliche Hebelstellungen versuchte, um die Flugrichtung zu beeinflussen. Nach einem kurzen Trudeln fingen sie sich wieder und zogen eine weite Schleife nach rechts, bis sie wieder ihre vorherige Position erreicht hatten, dann ließ Thalon Getriebeschwinge nach links gleiten, bis sie in Richtung der Werkstatt flogen. Auch kurze Richtungswechsel testete der Pilot auf dem Rückweg und schwang mal nach links weg und bald darauf wieder nach rechts. Ein letztes Mal zog er das Uhrwerk auf und aktivierte es, als er sah, dass sie noch etwas Höhe gewinnen mussten. Dann stoppte Thalon die Bewegung der Schwingen, richtete sie für ein sanftes Abwärtsgleiten aus und verlagerte sein Gewicht nach vorn, der Drache reagierte darauf und korrigierte mit seiner zweischneidigen Schwanzklinge die Richtung im Kleinen. Sie kamen der Plattform näher, Thalon zog die Flügel leicht an, dass sich die Geschwindigkeit verringerte, kaum waren sie über der Landebahn, schaltete er nochmals das Federwerk an, stellte die schlagenden Schwingen quer und bremste so noch mehr ab. Als sie wieder still standen, stoppte der Mensch die Bewegung der Flügel und entspannte das Uhrwerk, damit es keinen Schaden nahm. Beim Absteigen schob er seine Schutzbrille auf die Stirn und klappte dann die Flügel wieder ein, ehe sie gemeinsam zurück in die Halle trotteten.

 

Thalon war sehr zufrieden mit dem Ausflug, alles daran hatte seine Erwartungen mindestens bestätigt, die Handhabung der Steuerung hatte ihm sogar besonders viel Freude bereitet. Er tätschelte dem Landdrachen freundschaftlich die Flanke, was Getriebeschwinge mit einem wohlig kehligem Knurren entgegnete, was mit dem Schnurren einer Katze vergleichbar war. Der Mekantera befreite seinen Freund von den Schwingen, dem Sattel und dem Lederharnisch. Ohne die Flugkleidung wirkte das große jadegrüne Reptil weitaus weniger gefährlich, was aber nicht der Fall war, denn mit seinen scharfen Zähnen und Klauen konnte das Wesen sehr gut umgehen, wenn man es reizte.

Wackelnden Schrittes begab sich der Drache zu seinem Sitz- und Schlafplatz, der mit großen weichen Kissen ausgelegt war. Thalon verstaute die Leerrüstung und den Sattel in zwei schweren Truhen, die Getriebeschwinges Diwan flankierten. Die künstlichen Schwingen legte er auf der breiten Werkbank aus. Der Ingenieur ging sich abschließend waschen und zog ein frisches Hemd über. „Du bleibst hier, Rädchen. Ich muss mich mit Dragner treffen und ihm von unserem Fortschritt erzählen.“, teilte er dem Reptil mit und kraulte ihm die hellen Bauchschuppen, worauf dieses nickte und zufrieden schnurrte.

Thalon winkte und verließ die Werkhalle.

 

Der kräftige Mann mit dem kurzgeschorenen Haupt kletterte zügig die Metallleiter hinunter, die sich außerhalb seiner Werkstatt befand. Er gelangte auf eine stählerne Rampe, auf der bequem zwei Menschen nebeneinander gehen konnten. In westlicher Richtung sah er die qualmenden Schlote zahlreicher Anlagen, die das Leben in der Stadt einfacher gestalten sollten. Dampftechnologie wurde seit einiger Zeit für wirklich alles eingesetzt. Die Brennöfen liefen überall auf Hochtouren und Ingenieure waren zur gefragtesten und begehrtesten Berufsgruppe des Landes geworden. Auch die Drachenreiter hatten die Möglichkeiten der Physik für sich entdeckt. Thalons Weg führte ihn zur Schmiede der Garnison, die von Dragner geleitet wurde. Auch er war ein Drachenreiter, dessen Geschöpf „Schmiedefeuer“, ein gänzlich mechanischer Drache, von ihm entworfen worden war.

 

Dragner respektierte Thalon, belächelte ihn aber, weil dieser sich immer noch mit Lebewesen beschäftigte, statt sich gänzlich der Ingenieurskunst hinzugeben. Sein Werk war in der Tat ein imposanter Anblick aus Stahl, Dampf und Feuer. Im Inneren wurde ein gewaltiger Ofen von flüssigem Magma betrieben, das auch als Waffe herausgeschleudert werden konnte. Die Schuppen des Rumpfes ließen sich bis zum Glühen erhitzen, was unterhalb des Ungetüms wirklich alles verbrannte und zerstörte. Sein Rücken zierte beiderseits das mekanteranische Wappen auf einem feuerfesten Überwurf, den der opulente Sattel krönte. Dragner überwachte die abschließenden Arbeiten an seinem Meisterwerk, als Thalon die Schmiede betrat. Beeindruckt näherte sich der „Bastler“ dem Schmiedemeister. „Grüß dich, Dragner.“, machte sich der Ingenieur bemerkbar. Der imposante Ritter stutzte kurz und drehte sich um, damit er sehen konnte, wer es wagte ihn zu stören. „Was führt dich zu mir?“, fragte der breitschultrige Mann mit dem Vollbart ungeduldig. Thalon blieb ruhig und ließ sich nicht einschüchtern, dafür kannte er sein Gegenüber schon zu lange und zu gut. „Mein Drache fliegt, als hätte er sein Lebtag nie etwas anderes getan. Ich habe es endlich geschafft.“, berichtete er freudestrahlend. Dragner schüttelte ungläubig den Kopf, wobei sein langes, zu einem Zopf geflochtenes Haupthaar hin und her schwang. Mit einem Lachen entgegnete er: „Hast du es endlich hinbekommen, alter Fuchs? Mein Glückwunsch. Sobald Schmiedefeuer die Testflüge bestanden hat, können wir ja gemeinsam eine Runde drehen. Ich bin gespannt, wer von uns mehr erreicht hat.“ Thalon schlug ein. Es war nun abgemachte Sache, dass sie bald gegeneinander antreten würden. „Nun denn, wir haben hier noch zu tun, Bastler. Nett, dass du hier warst.“, wimmelte Dragner den in Leinen und Leder gekleideten Kontrahenten ab.

 

Thalon zog sich zurück und verließ sowohl die Schmiede, als auch die Garnison und lenkte seine Schritte in die Stadt. Dampfbetriebene Wagen schnauften über die Hauptstraße, die Menschen, Baumaterial, Kohle und Lebensmittel in die Metropole Mekara brachten, der Hauptstadt von Mekantera. Der Ingenieur war froh, etwas außerhalb zu leben, da er die saubere Luft der Berge dem stinkenden Moloch vorzog. Doch ab und an wagte er sich in das Gewühl, um eine Schänke zu besuchen, was er auch heute tat.

Der hochgewachsene, kräftige Mann verharrte auf einer Brücke, die über der Hauptverkehrsader ihren Bogen schlug und beobachtete den regen Betrieb, ehe er weiterging.

 

Er steuerte geradewegs sein liebstes Lokal an, die „Dampfente“. Ein leicht oxidiertes Kupferschild, das die Abbildung einer metallenen Ente mit Feuer im Bauch und Dampf aus dem Schnabel zierte, hing über den Eingang der Schänke. Die schwere Holztür knarzte laut hörbar beim Öffnen. Die Blicke der wenigen Anwesenden richteten sich vollständig auf ihn, als er den verqualmten Raum betrat. Der Wirt grüßte Thalon mit einem zahnlosen Grinsen und schenkte ihm direkt ein Bier ein, nachdem sie sich abwechselnd zugenickt hatten. Der Neuankömmling ließ die Tür ins Schloss fallen und setzte sich an die Theke, wo der Wirt ihm das volle Glas mit dem goldenen Gebräu und dem weißen Schaum nur eine Sekunde später an den Platz stellte. „Warst lange nicht hier, Bastler. Hoffe, du kommst wieder öfter.“, begrüßte der dürre, drahtige Eigentümer den Ingenieur. Nochmals zeigte er sein zahnloses Lächeln. „Da nun alles reibungslos funktioniert, werde ich auch morgen nochmal vorbeischauen, denke ich.“, bestätigte der muskulöse Mann. „Es wird Zeit, dass ich mich für das Drachenrennen eintragen lasse.“ Der Wirt pfiff anerkennend durch die große Zahnlücke. „Das ich das noch erleben darf. Ein Drachenreiter beehrt mein Etablissement! Na dann viel Glück dabei.“, wünschte er Thalon, der dankbar nickte und an seinem Glas nippte. Die übrigen Besucher lachten kurz über die Bemerkung des Wirtes, waren aber schnell wieder ruhig.

Der Drachenreiter nahm noch einen großen Schluck, legte einige Münzen auf den Tresen, trank das Glas leer und verließ wortlos die Kneipe. ‚Ignoranten.‘, dachte er sich, als er die Straße wieder betrat. Seine Füße trugen ihn zügig wieder nach Hause zu seiner Werkhalle, wo „Rädchen“ auf ihn wartete.

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